«Ich sitze und ich leuchte»

Eine Geschichte über Selbstwertschätzung

Oder davon, warum Erkrankung auch eine Ressource für uns alle ist

 

Verfasst von Sereina Gläser, Vorstandsmitglied Netzwerk Avanti

22. Februar 2024

Sereina sitz auf einer Terasse in der Sonne mit geschlossenen Augen. Sereina hat rot blondes Haar. Auf dem Tisch liegen Papier und Stifte sowie steht dort eine Tasse. Im Hinterdrung ist ein Haus und Schneebedeckte Berge zu sehen. Sereina trägt eine dunkelblaue Jacke.

«Ich sitze und ich leuchte.»

Ein wunderbarer Satz einer schwer gezeichneten Schmerzpatientin. Sie ist durch ihre Erkrankung so stark behindert, dass sie seit vielen Jahren fast nur noch meditieren, also bewusst «sein», kann.

Davon hat mir meine Therapeutin während einer unserer Sitzungen berichtet. Sie begleitet mich seit einigen Jahren in meinem sehr oft überfordernden Alltag mit vielen körperlichen Krankheiten.

Ich bin tief berührt davon, dass diese real existierende Patientin so viel Kraft und Selbstwertschätzung für sich selbst aufbringen kann. Dieses persönliche Beispiel inspiriert mich sehr dazu, mich selbst in meinem Sein vollkommener anzunehmen zu versuchen und mich darin zu üben, mich weniger anhand äusserer und internalisierter Leistungsnormen abzuwerten.

In einer Welt, in der wir uns oft nur dann als wertvoll empfinden können; wenn wir möglichst viel Lohnarbeit, Familienarbeit oder viele Likes in den sozialen Medien generieren können; ist genau diese Aussage unglaublich kraftvoll.

Was ist mensch noch wert, wenn mensch keine dieser Tätigkeiten mehr vollbringen kann?

Ich wünsche mir so sehr eine Gesellschaft, in der sich die Menschen selbst empathisch und auch wohlwollend kritisch reflektieren.

In meiner Vision ist es möglich, dass wir uns bereits als Kinder darin üben dürfen, uns selbst und Andere wirklich ehrlich und tief verbunden wahrzunehmen. Weniger Leistungsdruck, dafür mehr Hilfe beim Erlernen von sozialen Fähigkeiten. Auch im Umgang mit uns selbst.

Ich sehe so viel Schönheit und Wachstumsmöglichkeiten darin, wenn wir alle üben dürften, uns selbst authentisch zu begegnen. Wenn wir Empathie, wirkliche Konfliktfähigkeiten und Zuhören lernen könnten.

Vielleicht wäre es sogar ein Schulfach, in dem wir als noch ganz junge Menschen solche grundlegenden und schwierigen Kompetenzen üben dürften?

In einer Welt, in der so viel Krieg, Vernichtung, Diskriminierung und Überlastung herrschen, sind solche Fähigkeiten besonders wichtig.

Und was hat das jetzt mit Krankheit, mit Behinderung, zu tun?

Warum kann Erkrankung eine Ressource sein für unsere Gesellschaft?

Gerne erzähle ich Dir das anhand meiner Geschichte:

 

Mein Name ist Sereina Gläser, ich bin 39 Jahre alt und lebe seit mehreren Jahrzehnten mit vielen teilweise schweren körperlichen Erkrankungen, die mich seit jeher an einer normativen Lebensentfaltung hindern. Unter anderem lebe ich mit einer starken Wirbelsäulenerkrankung, einer Autoimmunkrankheit, ME/CFS und Anderem. Seit 11 Jahren ist mir ein selbständiges, freies Leben nicht mehr möglich. Diese Realität hat mich sehr viel gelehrt. Ich bin sehr stark mit meiner reichen, lebendigen Innenwelt verbunden und habe ein starkes Gespür für das Wichtige im Leben entwickeln dürfen.

Obwohl sich schon in meiner Kindheit starke Anzeichen einer körperlichen Krankheit abgezeichnet und meinen Alltag erheblich erschwert haben, konnte ich bis und mit 28 Lebensjahren einen einigermassen Norm-gerechten Alltag durchboxen:

Ich war immer sehr sportlich; mitten in meinem erfolgreichen Psychologiestudium, lebte in einer erfüllenden Liebesbeziehung und hatte zahlreiche freundschaftliche Kontakte. Doch dann, auf einen Schlag, ging es mir innert einem halben Jahr so schlecht, dass ich zu einem Pflegefall wurde. Ich konnte nicht mehr länger als 15 bis 30 Minuten am Stück gehen und auch das oft nur noch mit Pausen.

Das Essen hat mich so überlastet, dass ich es fast nur noch im Liegen konnte. Bis heute ist das längere aufrechte Sitzen auf Stühlen für mich eine körperliche Überlastung.

Diese Lebenserfahrung war schwer traumatisierend: Ich musste sämtliche Träume und Lebenspläne aufgeben, mein Leben hat sich komplett auf den Kopf gestellt.

Die meisten meiner Mitmenschen, inklusive meiner ganzen Familie, haben sich aus dem Staub gemacht. Wären mein damaliger Partner (der mein heutiger Ehemann ist) und meine damals beste Freundin nicht gewesen, ich würde heute nicht mehr leben. Das weiss ich mit Sicherheit. Denn kein staatliches Amt und kaum eine ärztliche Fachperson hat sich je wirklich für mich eingesetzt, mich entlastet.

Das ist leider kein Einzelschicksal. Ich habe in den letzten 11 Jahren unzählige solcher Schicksale kennenlernen dürfen. Wir chronisch kranken Menschen und unsere Angehörigen sind so oft die Vergessenen, leben und kämpfen im Schatten dieser Gesellschaft.

Als Folge meiner Erkrankungen lebe ich zudem mit schweren Traumatisierungen aufgrund der massiven Abwertung, Ausgrenzung, Behinderung, die ich erlebt habe. Leider wiederholt sich vieles davon.

Und warum sehe ich mein Schicksal und das vieler anderen Betroffenen trotzdem noch als Gewinn und Chance für uns alle?

Krankheit kann Dich so sehr im Leben behindern, dass Du gar nicht mehr verdrängen und wegschauen kannst.

Du musst fühlen, wahrnehmen, spüren.

«Was ist mir wirklich wichtig in meinem Leben und meinem Umfeld?»

Krankheit fördert Achtsamkeit, Empathie und Erkenntnis.

Meine Erkrankungen haben mich dazu inspiriert, mir noch mehr Zeit zu nehmen für meine Kreativität und meine sozialen Kompetenzen.

Ich habe so viel auszudrücken durch meinen Tanz und durch meine Skulpturen, Texte oder Bilder. Ohne dabei einem Erfolgsdruck, Prestige oder wirtschaftlichen Einnahmen hinterherzujagen.

 

Wir stehen unter so hohem Druck, es allen recht zu machen.

Unsere gesamte Energie fliesst in unser alltägliches finanzielles Überleben und die Versorgung Angehöriger.

Oft verlieren wir uns selbst dabei so schnell.

Könnte ich wählen, wäre ich natürlich auch lieber gesund und könnte mich entfalten wie ein Schmetterling.

Doch ich frage mich: Könnte ich das wirklich?

Ich bin mir nicht so sicher.

Zum heutigen Zeitpunkt, in dem wir in so vielen Bereichen des Lebens immer noch mehr und mehr sein, haben und leisten müssen; zweifle ich daran, dass ich mich frei genug entfalten könnte.

Aktuelle psychiatrische Studien zeigen, dass sich ein immer grösserer Teil der Menschen in unserem Land überlastet und krank fühlt. Erschöpfung und Depressionen nehmen, nachweislich messbar, stark zu.

In der Schweiz leben, laut Bundesamt für Statistik, rund 30 Prozent der Bevölkerung mit chronischen Krankheiten und somit mit Behinderung. Tendenz steigend.

Nicht selten kann diese Realität auch zu erhöhter Suizidalität führen.

 

Wie wertvoll, wie befreiend und bereichernd wäre es, genau aus diesen Gründen wieder Raum und Kapazität zu haben, sich selbst und unsere Mitmenschen spüren zu dürfen? Überhaupt Zeit und Raum für ein echtes Miteinander zu haben?

Wie wichtig ist genau hier, dass wir auch die Möglichkeit bekommen, gesehen und gehört zu werden und auf andere Mitmenschen und Lebewesen einzugehen?

Krankheit ist eine unfreiwillige Chance, den normierten Schnellzug zu verlangsamen. Krankheit ist eine Inspiration und ein Vorbild, auch für vermeintlich gesunde Menschen, sich und einander wieder wahrzunehmen.

Krankheit ist eine Ressource unserer Gesellschaft, umzudenken. Sogar in klimafreundlicher Hinsicht.

Krankheit erinnert und verbindet uns alle mit der eigenen Fragilität, Verletzlichkeit und Sterblichkeit, die wir nur allzu gerne einfach ausklammern möchten.

Krankheit ist Klarsicht, Verbindung, Überlebenskunst.

Krankheit ist psychologische*r und spirituelle*r Lehrmeister*in.

Krankheit kann die Weitsicht öffnen und inspirieren.

Krankheit kann Empathie fördern.

Ich wünsche mir eine Gesellschaft, in der es allen Menschen möglich ist, sich und die Umwelt empathisch wahrzunehmen. Diejenigen Lebensschritte gehen zu dürfen, die für einen wirklich wichtig sind.

Ohne dabei egozentrisch und hyper-individualistisch zu sein.

Ohne dabei narzisstische Normen zu reproduzieren oder uns immer mehr optimieren zu müssen.

Ich wünsche mir eine Gesellschaft, in der Kranke und Angehörige sicher getragen, wertgeschätzt werden und viel weniger ein Mahnmal dafür sein müssen, was für uns alle konstruktiver und zugänglicher sein müsste.