Stellungsnahme avanti donne zur Präimplantationsdiagnostik (PID) - 2015
Betroffene nicht urteilsfähig?
Gegner der PID – die grosse Mehrheit von ihnen nicht betroffen und ohne Kenntnis der in Frage stehenden Erbkrankheit – unterstellen betroffenen Frauen bzw. Paaren, dass sie mit dem Entscheid überfordert sind.
Abgesehen davon, dass eine solche Argumentation ebenfalls begründet werden müsste (worauf basiert das Urteil? Haben die Urteilenden mit den Betroffenen gesprochen?), stellt sich die Frage, ob solche Paare mit der jahrzehntelangen Betreuung eines schwer beeinträchtigten Kindes und Jugendlichen nicht erst recht überfordert wären.
Was betroffene Frauen und Paare wirklich entscheiden müssen
Was in den Diskussion nicht gesagt wird: Die in Frage stehenden Erbrkankheiten müssen in den meisten Fällen dauerhaft medizinisch behandelt werden. Dies nicht, um sie zu heilen – das ist meist nicht möglich –, sondern damit die Betroffenen gut damit leben können. Das bedeutet lebenslang Therapien, Operationen, Medikamente, immer wieder Phasen mit Angst und Schmerzen, Ungewissheit, eingeschränkte Möglichkeiten, zum Beispiel im Beruf, Kampf mit der IV, finanzielle Zusatzbelastungen.
Dieses Wissen um die ganz konkreten alltäglichen Folgen der eigenen Krankheit ist der Grund, weshalb einige auf Kinder verzichten, andere hingegen eine PID in Betracht ziehen. Denn mit einem gleichbetroffenen Kind müssen Eltern mit Behinderung diese Begleiterscheinungen doppelt bewältigen.
In einer besonderen Situation sind zudem auch Eltern, deren Kind tot geboren wurde oder früh an der besagten Krankheit gestorben ist. Diese Paare wünschen sich wieder ein Kind, möchten aber das Risiko, dass sie das gleiche Trauma noch einmal durchmachen müssen, so weit als möglich ausschliessen.
Hoher Stellenwert der reproduktiven Selbstbestimmung
Der Entscheid, ob man das bekannte Risiko eingehen will oder nicht, hat nichts damit zu tun, ob die Betroffenen «glücklich» sind oder ob «auch behindertes Leben lebenswert ist». (Diese Paare würden sonst ja auch das eigene Leben als lebensunwert betrachten – angesichts des Kinderwunsches eine absurde Vorstellung).
Der Entscheid ist viel banaler und – wie bei der Kinderfrage generell – individuell-subjektv : Einige Paare mit genetisch bedingter Behinderung trauen sich die zu erwartende doppelte oder mehrfache Belastung zu, andere möchten sie aufgrund der eigenen Erfahrungen vermeiden, aber trotzdem nicht von vornherein auf ein eigenes Kind verzichten.
Ist dieser Wunsch legitim? Die Schweizer Bundesverfassung gibt dem Recht auf reproduktive Gesundheit und Selbstbestimmung bzw. auf Familiengründung jedenfalls einen hohen Stellenwert. Was die Reproduktionsmedizin betrifft, so hat die Schweizer Bevölkerung sowohl der künstlichen Befruchtung wie auch der Stammzellenforschung an Embryonen mit grosser Mehrheit zugestimmt. Mit diesen Entscheiden wurde auch die Tür zu weiteren Anwendungen schon vor langem geöffnet – in einem demokratischen Verfahren. Dies gilt es zu respektieren, auch wenn man die Technik persönlich ablehnt.
Die Zukunft bleibt ungewiss
Wie sich dieser Teil der Medizin in Zukunft entwickeln wird, ist so offen wie die Zukunft generell. Sicher ist dagegen, dass diese Zukunft weder in der Schweiz noch mit Schweizer Gesetzen im Voraus geregelt werden kann.
Ein Totalverbot der PID trifft deshalb primär die persönlich betroffenen Paare mit Kinderwunsch. Anders gesagt: Das Abstimmungsresultat steuert lediglich die Lebensläufe von direkt Betroffenen. Wer kein Kind mit Behinderung will, kann den Fötus im Mutterleib untersuchen lassen und ihn abtreiben lassen – auch dann noch, wenn er (anders als der Embryo) bereits lebensfähig ist und bei der Frau eine Geburt eingeleitet werden muss. Dies – wie es unsere Gesellschaft tut – zu erlauben und gleichzeitig die PID «aus moralischen Gründen» zu verbieten, geht nicht auf.
Das Abstimmungsergebnis vom 14. Juni 2015 ändert an der Situation von Menschen mit Behinderung insgesamt nichts. Weder ein Verbot noch eine Lockerung wird die Diskriminierungen gegenüber Menschen mit Behinderung stoppen, die Existenznöte vieler Betroffener mildern, die Akzeptanz verbessern oder die Zahl von Kindern mit Down-Syndrom verändern. Abtreibungen bleiben erlaubt und Fruchtbarkeitskliniken in Betrieb.
Dass es in diesem Kampf nicht um die Verbesserung unserer Lebensbedingungen geht, zeigt nichts so deutlich wie die Tatsache, dass sich ausgerechnet jene Partei hier als Behindertenbeschützerin verkauft, die sonst alles tut, um lebenden Betroffenen das Leben möglichst schwer zu machen.
Rasche Umsetzung der BRK als wirksamer Schutz
Wie Menschen – Eltern, Kinder, Erwachsene – in der Schweiz mit Behinderungen und chronischen Krankheiten leben, darüber wird nicht in den Labors der Befruchtungskliniken und auch nicht an diesem 14. Juni 2015 entschieden, sondern das entscheidet die Wirtschafts-, die Sozial- und die Bildungspolitik dieses Landes – und das Verhalten jedes Einzelnen im Alltag.
Die rasche Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention schützt Betroffene viel wirksamer vor Druck und Diskriminierung als ein (verfassungsmässig fragwürdiges) Wissensverbot für eine kleine Minderheit von unfruchtbaren oder erblich belasteten Paaren. Deren Kinderwunsch müssen wir weder verstehen noch teilen. Darüber moralisch zu urteilen, steht uns aber nicht zu, solange wir für uns selbst und für Menschen mit Behinderung generell vollständige Teilhabe und Selbstbestimmung einfordern.
Angie Hagmann