Der fehlende Zugang und seine Folgen
Verfasst von Simone Feuerstein, Vorstandsmitglied Netzwerk Avanti
17. Oktober 2023
Gewalt kann viele Formen und Facetten annehmen und sie beschränkt sich nicht auf einzelne Kulturen oder Gesellschaften – sie ist ein globales Problem. Wer kann davon betroffen sein – wir alle!
Jeder Mensch ist dem Potenzial ausgesetzt, in seinem Leben eine oder mehrere Formen von Gewalt zu erleiden. Wo befinden sich diese Schauplätze? Überall, wo Menschen zusammenfinden. In Partner- sowie Freundschaften, am Arbeitsplatz als auch im öffentlich-kulturellen Leben, um einige von ihnen zu nennen.
Frauen sind multiplen Faktoren ausgesetzt und auch unter Frauen selbst gibt es die, die gesellschaftlich und strukturell nicht im notwendigen Ausmass berücksichtigt sind – Frauen mit Behinderung. Ihre Faktoren vervielfachen sich aufgrund ihrer Lebenssituationen immens. Dennoch ist konkret ihr Zugang zu den verschiedensten Hilfs- und Dienstleistungsangeboten erschwert oder gar nicht gegeben. Wo fängt und endet da die Aufzählung? In diesem Text beleuchte ich einige Punkte, im Wissen darum, dass leider nicht alle und ihr Ausmass darin Platz finden – dazu sind mehrere Texte notwendig.
Frauen mit Behinderung pflegen Freundschaften, bewegen sich im Arbeits- und Kulturleben – und führen Partnerschaften oder Verhältnisse zu anderen. Würde gesellschaftlich ein breiteres Bewusstsein dafür bestehen, dass das Leben von Menschen mit Behinderung – konkret Frauen mit Behinderung diese Bereiche ebenso betreffen wie nicht-behinderte Frauen, müsste der Zugang zu Angeboten rundum die Thematik «Gewalt» heute hindernisfrei sein. Er ist es auch heute noch nur teilweise.
Frauen mit Behinderung tragen ein vielfach höheres Risiko von allgemein körperlicher und/oder sexueller sowie psychischer Gewalt betroffen zu sein, als Frauen ohne Behinderung. Das auf der Basis der notwendigen Unterstützung im Alltag durch andere und die daraus resultierenden Abhängigkeit. Je nach Behinderungsform kann ein Isolationspotenzial präsenter vorhanden sein und die Abhängigkeit noch weiter verstärken. Diese Tatsache müsste alarmierend und Grund genug sein, dass das Dienstleistungsspektrum in vollem Umfang schnellstmöglich hindernisfrei zugänglich wäre.
Von der hindernisfreien Webseite mit Vorlese-Funktion, um die Informationen neben Leichter Sprache und mehrsprachiger Ausgabe für diverse Behinderungsformen zu ergänzen, die eine möglichst eigenständige Handhabung eröffnen, bis hin zur Weiterentwicklung des Versorgungs- und Bildungsangebots, um die Vielschichtigkeit von «Behinderung und Gewalt» für die gesamte Gesellschaft spezifisch und breit zu thematisieren. Der Ausbau und eine niederschwellige Zugänglichkeit zur Versorgung, Beratung und Therapie für alle Behinderungsformen muss konsequent und mit Nachdruck gefördert werden. Nur so können die Grundsätze frei von Gewalt zu leben, Zugang zu allumfassender Gesundheit zu erhalten und ihr Schutz mit einer weiterentwickelten Prävention gestärkt und sichergestellt werden.
Die bekannte Notwendigkeit der Zugänglichkeit von Frauenhäusern sichert nicht nur die anonyme Sicherheit der betroffenen Frauen gegenüber anderen – das temporäre Einziehen in die Wohnung einer anderen Person oder Finden einer zugänglichen und beziehbaren neuen Wohnung in kurzer Zeit ist mit Behinderung oft nicht möglich. Zugänglichkeit bedeutet: Der ÖV-Anschluss kann trotz Behinderung genutzt werden, die Distanz zum Zielort ist überschaubar, der Zugang ins Frauenhaus ist gewährleistet bis hin zur behindertengerechten Nasszelle und die Möglichkeit, sich innerhalb des Hauses im Rollstuhl, mit anderen Hilfsmitteln oder Assistenz fortbewegen zu können.
Weiter kann nicht nur eine körperliche, sexuelle oder psychische Gewalt, sondern auch eine wirtschaftliche Abhängigkeit, die grosse Not weiter verstärken. Der zeitnah notwendige Antritt einer neuen Arbeitsstelle kann unter unterschiedlichen Gesichtspunkten und ihrer Summe infolge der Behinderung längere Zeit beanspruchen. Ebenso nachvollziehbar und begründet, die Beantragung von Hilfsgeldern, falls diese durch die neu alleinstehende Lebenssituation notwendig würden. Und auch wenn diese bereits bestehen, können Finanzen dennoch ein Faktor sein, da möglicherweise Kosten in der Beziehung mitgetragen werden, die durch keine Versicherung gedeckt sind. Somit können neben alltagspraktischen und psychosozialen, auch wirtschaftliche Faktoren zu einer zentralen Problematik führen. Sie können durch die Behinderung schwerer bedarfsgerecht zu decken sein, was eine schnelle Befreiung aus der Situation zusätzlich massiv erschwert oder in kurzer Zeit nicht möglich macht.
Eine Frau mit Behinderung muss heute, je nach Behinderungsform und persönlicher Ausgangslage, für viele oder alle dieser Aspekte eine andere Person in ihre Situation einweihen, um die meist so dringende Hilfe überhaupt zu erhalten. Das kann ein unüberwindbares Hindernis darstellen und schliesst viele Frauen mit Behinderung von den Unterstützungsangeboten aus. Als wäre die persönliche Situation für alle betroffenen Frauen mit und ohne Behinderung nicht schon fatal genug, sind die Folgen der Nicht-Zugänglichkeit und die fehlende Inklusion in anderen Bereichen des Lebens im Zusammengang mit Gewalterlebnissen unermesslich.